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Abschied von einem geliebten Bildnis
3. Januar 1984
Wie fast verdorrt endlich die weißen
Schatten, endlich diese Farben
fassen, trinken, in sich tragen.
Dann, wie einem spät verstand’nen Wort
sich schließlich hastig zu entreißen:
jeder Schritt führt weiter fort.
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2. |
Nachtflug
00:34
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Nachtflug
16. Mai 1984
Wie ein losgelass’nes Wissen, ohne Schwere
ist mein Blick.
Und mein Fallen in die Leere
ist ein Stück
des Endlich-Ruhe-Findens.
Vergraben unter meinen Schwingen
ruht das müd gewordene Gesicht,
und des Sinkens Winde, die in meinen Händen singen,
fragen nicht
und halten streng, doch nie bestrafend
über Suchende Gericht.
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3. |
Geburt – Tod
01:05
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Geburt – Tod
25. Mai 1984
Als wäre alles nur ein Trug gewesen,
fortgerissen aus den Armen
die mich hielten, ohne irgendein Erbarmen
weggeworfen: Kranke, die nie mehr genesen.
Wie eine unumgehbar harte Schranke
fällt das Schwert. Und seine blanke
Klinge steht, und setzt den Schluss.
Und all das so verzweifelte Sich-Winden,
und all das Suchen, all den Überfluss
zu fühlen, und zu fühlen, dass sein Ende
endlich »Finden« heißt, und dass die Wende
alles so Gewohnten wie von Blinden
neu Geseh’nes ist: Tiefste Dunkelheit, doch Sicht,
als ob man ein schon von dem Anfang als Erinnerung
Vergess’nes wiederfände,
und wie ein von dem Hier-Sein abschiedhaft gewendetes
Gesicht.
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4. |
Heimkehr
01:02
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Heimkehr
7. juni 1984
Immer das suchende, schon ermüdende Wandern,
immer sich selbst nennend, doch einen andern
zu meinen. So matt und so langsam wird der Schritt,
wenn die Lider, zu schwer, von neuem sich schließen,
und die Glieder, als ob sie sich ziehen ließen,
weiterziehen, und die Sehnsucht zieht mit.
Und plötzlich ein zum ersten Mal Sehender
vor einem fremden Hause zu sein.
Und schon in sich fallend, und flehender
zu hoffen »Vielleicht wird es mein«,
und der Greis, der gebeugt aus der Tür mit der Hand
auf Dich zeigt,
sieht Dich lang und prüfend an.
Und Du weißt, Du selbst bist der alte Mann,
der da wie ein and’rer die Brauen neigt
und auf Dich wartet und denkt: »Vielleicht irgendwann«.
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5. |
Statue im Park Hellbrunn
00:32
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Statue im Park Hellbrunn
13. Juni 1984
Noch manchmal legt ein Mensch Dir eine Rose
in die blasse Strenge Deiner Hand.
Und doch, auch ihre scheinbar feste Farbe wird bald lose
sein und fallen, wie Vergess’nes fällt,
und starr und schweigend werden wie Dein Stand,
und schuldlos fortgeführt in Deine weiße Welt.
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6. |
Eine alte Dame stirbt
00:18
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Eine alte Dame stirbt
17. Juni 1984
So leise bin ich gegangen:
Niemand hat es gehört.
Ich war niemandes Verlangen
und niemanden hab ich gestört.
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7. |
Letztes Abendmahl
01:03
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Letztes Abendmahl
21. Juni 1984
Die Nacht hat alles hin zur Ruhe ausgeglichen:
Den Schweigenden, und um ihn seine Schatten,
den, den grad sie noch mit ihren Blicken festgehalten hatten
und dessen Schauen unter ihrem Halten-Wollen
fortgewichen.
Und wieder, suchend, blickt er in die Runde,
und mehr noch als die schon geahnte Wunde
der Gelenke schmerzt ihn die Frage,
der er in jedem Antlitz neu begegnet,
in jedem Herzen, das er selbst gesegnet
hat: Die Frage nach der Morgenstunde:
»Herr, was Du von uns verlangst,
am Ende Deiner Tage
ruhig und stark zu sein …«.
Da steht er auf und blickt aufs
fahle Kreuz in einem fernen Schein:
»Bleibt bei mir, auch ich habe Angst.«
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8. |
Letzter Brief
00:16
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Letzter Brief
11. Juli 1984
Was heißt denn das noch: »Leben«?
Keiner schützt und keiner lenkt.
Alles ist vergeben,
alles weggeschenkt.
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9. |
Fortgang
00:38
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Fortgang
Sonntag, 19. August 1984
Einmal noch
den Blick über Bilder streichen
und die Hände ruhen lassen,
bevor sie, endgültig verloren, verblassen,
und einem Kälteren, Fremden weichen.
Einmal noch.
Schau, seine Augen sind schwer.
Berührst noch einmal seine Wange mit Deiner Hand,
aber er ist schon lange
abgewandt,
erkennt sie nicht mehr.
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10. |
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Ohne Giebel ist mein Haus
Mittwoch, 22. August 1984
Ohne Giebel ist mein Haus,
der allzu frühe Schnee
bedeckt den Ofen,
kein Rauch steigt mehr daraus.
Kahl schon die frierenden Winde verloren:
der gefrorene See.
Und trotzdem auf Deine Arme zu hoffen
und in ihnen winterlos neugeboren.
Nach dem Liedtext »es ist ein schne gefallen«,
aus einer Handschrift von 1467
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11. |
Rose am Dorn
00:34
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Rose am Dorn
23. August 1984
Immer hinter den Fenstern geschlossene Augen alleine,
nur manchmal noch sieht,
ahnend nur, ein Vergessendes Deine:
Wie die Hand, die, die Rose erkennend, erst flieht,
aber dann, sie doch brechend, selber verblüht.
Nach dem gleichnamigen Lied
Dessen von Küenburc, um 1150
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12. |
Auf sein Grab
00:49
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Auf sein Grab
23. August 1984
Aufgehende, strahlst im Fenster den Morgen.
Erträgt es nicht:
Zu dunkel, solang Du verborgen
warst, zu hell nun Dein frisches Angesicht.
Schickt ihr einen Boten, einen blinden,
der nicht an ihrem Lichte vergeht,
der so anders sehend sich abzufinden
mit zu Großem versteht.
»Auf sein Grab« soll er sagen.
»Selber verloren und findend verbrannt«,
und gleich schon wieder abgewandt
ihren teilnahmslosen Fragen.
Nach dem gleichnamigen Lied des Heinrich von Morungen, um 1200
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13. |
Auf mein Grab
00:37
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Auf mein Grab
Samstag, den 25. August 1984
Setzt mir keinen Stein;
nur Wind, weite Wiese und Vergessen,
bis keiner, erinnernd, mehr abzumessen
vermag, wer, wie ich war,
ob ich war,
und vielleicht wird dann vergeben sein,
und Ruhe auf meinem verlorenen »Ja«.
Nach dem gleichnamigen Lied des Heinrich von Morungen, um 1200
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14. |
Ein Spiegel
00:42
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Ein Spiegel
30. August 1984,
00:15 Uhr
Wie in einem lange nicht mehr abgestaubten
Spiegel weiten und verlier’n sich die Pupillen.
Und so wie draußen die schon nur noch halb belaubten
Kronen, ohne Widerwillen,
lässt sie sich sein.
Der trübe Schein der alten Kerze, der geraubten
noch aus dem, was fast schon abgelegt,
verliert den letzten unerlaubten
Schimmer, und führt nun dorthin, wo man Schatten trägt.
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15. |
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