We’ve updated our Terms of Use to reflect our new entity name and address. You can review the changes here.
We’ve updated our Terms of Use. You can review the changes here.

Raureif

by Sascha Selke

/
  • Streaming + Download

    Includes unlimited streaming via the free Bandcamp app, plus high-quality download in MP3, FLAC and more.
    Purchasable with gift card

      €0.70 EUR  or more

     

about

A few weeks ago, when the night went on and I couldn’t fall asleep, a story – a fairy tale – entered my half-conscious mind, like the moonlight enters an empty room. The next day, I wrote it down. And over the last three days, I wrote some music to it, narrated it, and recorded it. It is in German, but it will be on Youtube soon, with captions in English. For now, enjoy a story about a girl turning into a women, and – of course – also a story about death.

There’s also a visualisation on YouTube: youtu.be/P_jEkpoe0RA

lyrics

Viel tausend Meilen ritt ich durch die Nacht.
Dies Märchen habe ich Euch mitgebracht.

Raureif

Es war dereinst ein Mädchen, das hatte keine Eltern mehr. Es lebte bei seiner Großmutter, in einem kleinen, grauen Haus, in einer kleinen, grauen Straße in einer kleinen, grauen Stadt. Sein Name war Raureif, denn seine Haut war kühl und hell wie der Reif, den die erste Winternacht auf die Felder und die kahlen Äcker legt.
Eines Tages – nach einem langen Schweigen – sprach die Großmutter zu Raureif: »Mein Kind, es ist an der Zeit. Der Nachbar zur Rechten hat seine Lider zugetan und sein Haus ist zu Staub zerfallen, und der Nachbar zur Linken hat seine Lider zugetan und sein Haus ist zu Staub zerfallen. Und bald werde auch ich meine Lider zutun.«
Da legte Raureif sich ein Tuch zurecht, und in das Tuch legte sie einen Apfel, ein Stück Käse und einen Laib Brot. Und dazu legte sie das Messer der Großmutter, in dessen Klinge war ein Wort eingraviert, und das Wort war »Immertreu«. Dann band sie das Tuch zu einem Säcklein zusammen, das sie sich über die Schulter legte. Sie küsste die Großmutter auf die Stirn und verließ das kleine, graue Haus. Die kleine Straße ging sie entlang bis zum großen Platz, und von dort bis zum Stadttor. Am Stadttor aber stand ein Torwächter, der war vor Alter fast durchsichtig geworden, und er stützte sich schwer auf seinen Spieß. »Es ist hoch an der Zeit,« sagte er, als er das Mädchen erblickte, »nur wenig länger, und Du hättest das Tor aus der Stadt nicht mehr vorgefunden.« Und mit einem leisen Seufzen öffnete er einen Spalt breit eine schwere, hölzerne Türe, die in das Tor eingelassen war, und Raureif schlüpfte hindurch nach draußen vor die Stadt. Von hier aus führte eine schmale Straße fort zum Horizont. Und während das Mädchen mit ruhigen Schritten den Weg aufnahm, zerfiel hinter ihm die Stadt zu einem Häuflein Staub, und ein leichter Windhauch erfasste das Häuflein und verblies es über die Ebene, so als sei hier nie etwas anderes gewesen als die kahle, leere Fläche, über die die grauen Wolken zogen.

Nach einer Weile gelangte Raureif an eine Wegkreuzung, die führte in vier Richtungen. Da nahm sie das Messer Immertreu aus ihrem Säcklein, und mit einem kräftigen Zug der Klinge schnitt sie die fünf Finger ihrer linken Hand ab. Der kleine Finger aber verwandelte sich in einen gelben Vogel, der flog nach Süden. Der Ringfinger verwandelte sich in einen grünen Vogel, der flog nach Osten. Der Mittelfinger verwandelte sich in einen roten Vogel, der flog nach Westen. Der Zeigefinger aber verwandelte sich in einen blauen Vogel, an dessen Schwanz zwei lange Federn im Winde wehten, der flog nach Norden. Und auf dem Blute, das aus Raureifs Hand floss wie ein kleines Bächlein, glitt ihr abgetrennter Daumen zu Boden, und als er den staubigen Grund berührte, der schwarz geworden war vom Blute, da verwandelte er sich in einen roten Fuchs, der umschmeichelte die Beine des Mädchens. »Es ist an der Zeit,« sprach der Fuchs »und der Weg ist noch lang!« So wandten die beiden sich nach Norden und zogen weiter.

Nach einem Stück des Weges nun gelangten sie an einen schmalen Fluss, über den war eine Brücke gebaut, und vor der Brücke stand ein Brückenwächter. Als der Brückenwächter Raureif sah, da sprach er: »Sieh’, wer da des Weges kommt! Was willst Du mir geben, wenn ich Dich passieren lasse?« Da griff das Mädchen in sein Säcklein und zog den Apfel hervor, und legte ihn dem Wächter in die Hände, und er ließ sie die Brücke überqueren. Als sie aber auf der anderen Seite des Flusses angekommen war, da wurde der Apfel ganz braun und runzelig, und der Wächter schluckte ihn in einem Stück, und wie er ihn geschluckt hatte, sank er nieder und verfiel in einen tiefen Schlaf. Und ohne sich umzusehen zogen Rauhreif und er rote Fuchs weiter.

Nach einem weiteren Weilchen des Weges gelangten sie an einen breiteren Fluss, über den war auch eine Brücke gebaut, und vor der Brücke stand ein Brückenwächter. Als der Brückenwächter Raureif sah, da sprach er: »Sieh’, wer da des Weges kommt! Was willst Du mir geben, wenn ich Dich passieren lasse?« Da griff das Mädchen in sein Säcklein und zog den Käse hervor, und legte ihn dem Wächter in die Hände, und er ließ sie die Brücke überqueren. Als sie aber auf der anderen Seite des Flusses angekommen war, da zerfloss der Käse in den Händen des Wächters zu Wasser, und der Wächter trank das Wasser in einem großen Schluck, und wie er es geschluckt hatte, da sank er nieder und verfiel in einen tiefen Schlaf. Und ohne sich umzusehen zogen Rauhreif und er rote Fuchs weiter.

Gegen Abend nun gelangten sie an einen breiten Fluss, über den war auch eine Brücke gebaut, und vor der Brücke stand ein Brückenwächter. Als der Brückenwächter Raureif sah, da sprach er: »Sieh’, wer da des Weges kommt! Was willst Du mir geben, wenn ich Dich passieren lasse?« Da griff das Mädchen in sein Säcklein und zog das Brot hervor, und legte es dem Wächter in die Hände, und er ließ sie die Brücke überqueren. Als sie aber auf der anderen Seite des Flusses angekommen war, da wurde das Brot in den Händen des Wächters zu einem großen Stein, und der Wächter sprach: »Du hättest den Fluss, der zugefroren ist, auch über das Eis überqueren können, doch Du hättest nicht gut daran getan.« Dann schluckte er das steinerne Brot in einem Stück, und wie er es geschluckt hatte, da taumelte er zu Boden wie ein trockenes Blatt und glitt langsam die Uferböschung hinab, glitt wie durch einen Schleier durch das spiegelglatte Eis und sank bis zum Grund des glasklaren Flusses, wo er in einen tiefen Schlaf verfiel. Und ohne sich umzusehen zogen Rauhreif und er rote Fuchs weiter.

Es war nun gegen Einbruch der Dunkelheit, da gelangten sie an eine Wand aus Eis, die reichte vom linken Horizont bis an den rechten Horizont, und oben bis in die grauen Wolken, die dunkler und dunkler wurden. Da stellte sich der rote Fuchs auf seine Hinterbeine und schritt auf die Eiswand zu, die glatt war wie ein Spiegel, und als er die Wand berührte, glitt er durch sie hindurch wie durch einen Schleier. Da wandte der Fuch sich um, und Raureif sah, dass er zu einem jungen Mann geworden war, der trug ein großes Fuchsfell um die Schultern. Und der Fuchsmann sprach zu Raureif: »Ich will Dir mein Herz schenken, doch zuerst musst auch Du mir etwas schenken: Dein Messer ist, was ich begehre.« Da zögerte Raureif einen langen Atemzug, doch dann zog sie das Messer Immertreu aus ihrem Säcklein, nahm die Klinge in ihre rechte Hand und reichte es dem Fuchsmann hin. Und wie er es an sich zog, da schnitt die scharfe Klinge tief in Raureifs Hand, und die Blutstropfen, die auf den verschneiten Boden fielen, wurden zu schwarzen Blüten. Der Fuchsmann aber hielt das Messer mit festem Griff, und mit einer Bewegung so leicht wie ein Windhauch schnitt er ein großes Loch in seine Brust, darinnen man sein Herz schlagen sehen konnte. Und mit beiden Händen nahm er sein pochendes Herz heraus, und bot es Raureif dar. Sie aber nahm es vorsichtig in ihre Hände, und in einem Stück schluckte sie sein Herz, und das Blut von seinem Herzen färbte ihre Wangen rot, und wo ein paar Tropfen auf den verschneiten Boden fielen, da wurden sie zu roten Blüten.

Da lüftete sich der Eisschleier der Wand, und die dunklen Wolken sanken zu Boden als eine Decke von Eiskristallen, und der herrlichste schwarze Nachthimmel erhob sich über Raureifs Haupt, und tausend Sterne funkelten in den schönsten Tönen von Blau. Und aus den hellsten Sternen formte sich ein blauer Vogel, der hatte zwei lange Schwanzfedern, die reichten vom linken Horizont bis an den rechten Horizont. Und der Vogel sprach: »Siehe Raureif, dies ist Deine Nacht, auf die Du stets gewartet hast.« Und der blaue Vogel bot der jungen Frau seine Schwanzfedern an wie eine lange Treppe zu den Sternen.

Und bis auf den heutigen Tag kann man ganz im Norden des Eislands, in der längsten Nacht, am Himmel die Gestalt einer jungen Frau erkennen, Seite an Seite mit dem roten Fuchs.


Viel tausend Meilen ritt ich durch die Nacht.
Dies Märchen habe ich Euch mitgebracht.

– Sascha Selke, Januar 2019

credits

released February 2, 2019

license

all rights reserved

tags

If you like Sascha Selke, you may also like: